Bethel im Nationalsozialismus
Wann arbeitet Bethel endlich seine Geschichte auf? Da sind doch auch in der NS-Zeit so viele Menschen deportiert oder getötet worden.
Immer wieder wird Bethel mit solchen Fragen konfrontiert, immer wieder werden Falsch- und Desinformationen weiterverbreitet – obwohl seit nunmehr 40 Jahren die Türen zu Bethels Archiv offen sind und viele unabhängige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich kritisch mit Bethel im Nationalsozialimus auseinandergesetzt haben.
Entstanden sind faktenbasierte Forschungsergebnisse in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und auf verschiedenen Internetseiten. Hier werden sie kompakt vorgestellt.
Apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl
Historiker, Universität Bielefeld, Forschungsschwerpunkte Geschichte des Nationalsozialismus, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Diakoniegeschichte
"Im Hauptarchiv Bethel findet sich eine Fülle von Quellen zur Geschichte der v. Bodelschwinghschen Anstalten in der Zeit des Nationalsozialismus. Andere Archive bieten ergänzendes Material, so dass die Forschung insgesamt auf eine dichte Überlieferung zurückgreifen kann. Viele Aspekte sind mittlerweile gründlich untersucht worden, zum Beispiel die Positionierung der v. Bodelschwinghschen Anstalten gegenüber der nationalsozialistischen Machtübernahme, die Rolle der Ärzte, die Zwangssterilisationen im Rahmen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", die "stille Diplomatie" Pastor Friedrich von Bodelschwinghs d.J. im Zusammenhang mit der NS-"Euthanasie", der Einsatz von ausländischen Zwangsarbeitskräften im Zweiten Weltkrieg, neuerdings auch der Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg. Auch wenn die Forschung immer weiter voranschreitet, kann die Geschichte Bethels in der Zeit des Nationalsozialismus insgesamt als gut erforscht gelten."
Zahlen und Fakten aus 40 Jahren Forschung kurz zusammengefasst:
- Zwischen 1933 und 1945 wurden 1.665 Zwangssterilisationen in Bethel durchgeführt.
- In der "Aktion T4" wurden keine Patienten und Patientinnen aus Bethel in eine Gasmordanstalt abgeholt.
- Sieben jüdische Patienten und Patientinnen aus Bethel wurden 1941 Opfer der Sonderaktion gegen jüdische Anstaltspatienten und in Brandenburg/Havel ermordet.
- In Bethel selbst wurden keine Patienten und Patientinnen ermordet, wie es andernorts ab 1942 in der zweiten „Euthanasie“-Phase durchaus Methode war.
- Es gab keine "Kindereuthanasie" in Bethel - auch nicht im Kinderkrankenhaus Sonnenschein, dem Akutkrankenhaus für Kinder aus Bielefeld und der Umgebung.
- In den Jahren 1939 bis 1945 wurden bis zu 180 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zeitgleich in Bethel eingesetzt.
Bethel im Nationalsozialismus
Wissen online
Es ist klar, dass nicht jeder die Zeit hat tausende Seiten von wissenschaftlichen Texten zu studieren. Daher steht Wissenschaftskommunikation als Aufgabe des Hauptarchivs Bethel ganz weit oben. Die wichtigsten Forschungsergebnisse sind auch in verschiedenen Online-Formaten zugänglich.
- FAQs zu Bethel im Nationalsozialismus
Für den Schnelleinstieg wurde auf bethel.de die wissenschaftliche Forschung kurz und knapp zusammengefasst.
- von der Schwierigkeit Entscheidungen zu treffen. Bethel im Nationalsozialismus
Die digitale Ausstellung bietet mit vielen Dokumenten die Möglichkeit sich in die Zeit und die Akteure hineinzuversetzen.
- Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel im Nationalsozialismus
Im Internetportal Westfälische Geschichte sind die Themen Zwangssterilisationen, "Euthanasie" und jüdische Patienten zusammengefasst.
- Rundgang Bethel im Nationalsozialismus
Mit der App an die historischen Orte gehen und erfahren, welche Auswirkungen der Nationalsozialismus auf Bethel hatte.
- Erinnerungsorte in Bethel
Die Gedenkorte können in Bethel besucht werden. Hier sind sie digital zugänglich.
Viele Themen sind auch auf "Spurensuche Bielefeld" zu finden:
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Erinnerung an Irmgard Hemme – Opfer des Luftangriffs vom 18./19. September 1940
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Richard Wilmanns und die ersten eugenischen Sterilisationen in Bethel
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Stele für die Opfer der Zwangssterilisationen in Bethel
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Dr. med. Heinrich Jansen – jüdischer Patient in Bethel
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Dorothea Ahrndt (1916-1940) – jüdische Patientin in Bethel
Aktuelle Forschung
DFG-Forschungsprojekt: Alltag in Bethel
Von 2017 bis 2022 wurde in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung des Historikers Dr. Uwe Kaminsky und unter medizinhistorischer Mitarbeit von Dr. med. Marion Hulverscheidt zum Alltag in Bethel geforscht. Die Ergebnisse erscheinen im Herbst 2023. Das Besondere an diesem Forschungsprojekt ist der lange Untersuchungszeitraum von 1924 bis 1949. Neben Sachakten wurden erstmalig über 2.000 Patientenakten aus dem Hauptarchiv Bethel ausgewertet, was eine neue Perspektive auf das Leben der betreuten Menschen ermöglicht. Ein Schwerpunkt des interdisziplinären Forschungsteams war die Medizin und Therapie in Bethel.
Dr. Uwe Kaminsky
Leiter des DFG-Forschungsprojekts zu Alltag in Bethel 1924-1949, Historiker, Forschungsschwerpunkte Geschichte der Eugenik und der NS-„Euthanasie", Geschichte der Heimerziehung
"Die vorliegende Untersuchung stellt in einer Mikrostudie den Alltag in der größten privaten Anstalt Deutschlands für den Zeitraum zwischen Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik dar. Dies führt nicht nur unter der Perspektive der Lebenswelt der Patienten, sondern auch zur Frage des Verhältnisses von Medizin und Theologie zu einem historischen Erkenntnisgewinn. In der Studie werden Patientenakten erstmals als quantitative wie qualitative Quellen explizit eingebracht und in ihrem historischen Kontext von Gesellschaft, Medizin und Protestantismus beschrieben."
Neueste Erkenntnisse aus dem Projekt
Der Projektleiter Dr. Uwe Kaminsky stellt einige Forschungsergebnisse für die Zeit des Nationalsozialismus vor:
"Im Jahr 2000 waren insgesamt 1.176 Sterilisationen in Bethel nachgewiesen. Zum Gedenken an die Opfer wurde ein Mahnmal auf dem Bethelplatz errichtet. Im Hauptarchiv Bethel ging die Forschung zu nachweisbaren Sterilisationen weiter. Eine Datenbank weist nunmehr 1.665 Fälle auf, davon 1.217 Patienten und Patientinnen aus Pflegehäusern der v. Bodelschwinghschen Anstalten (Stand 01/2023). Diese Datenbank wurde im Forschungsprojekt umfassend statistisch ausgewertet, hinsichtlich der Diagnosen und der Zeiträume. Auch wenn der Anteil der Opfer der Zwangssterilisationen, in Bezug auf die Zahl der insgesamt verpflegten Menschen in Bethel, nicht höher war als in anderen Anstalten, so war die Not der Betroffenen groß und spiegelt sich in zahlreichen Krankengeschichten wie auch Erinnerungen.
Durch die historische Forschung seit langem bekannt ist die Befürwortung der Sterilisation in Bethel als fürsorgerische wie eugenische Maßnahme, die sich sowohl hinsichtlich theologischer wie ärztlicher Vertreter aufzeigen lässt. Als Wegbahner für die Eugenik kann man den Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh d.J. sehen, der nicht nur bei einem Vortrag 1929 in Lübeck die Erwägung der Eugenik bei gleichzeitiger Ablehnung der „Euthanasie“ diskutierte, sondern auch bei der ersten Konferenz des „Eugenischen Ausschusses“ des Centralausschusses der Inneren Mission im hessischen Treysa 1931 durch seine Anwesenheit und Befürwortung der Eugenik dem Thema in der ansonsten konservativ skeptischen, damaligen Inneren Mission die Tore öffnete.
Erstmals systematisch analysiert wurden im Forschungsprojekt die zwischen Herbst 1933 und Frühjahr 1934 feststellbaren Sterilisationen. Diese geschahen vor dem Hintergrund der Verschiebung einer möglichen medizinischen zu einer eugenischen Indikation. Eine zentrale Rolle nahm dabei der Chirurg des Krankenhauses Sarepta, Richard Wilmanns, ein."
"Seit langem ist erforscht, dass Bethel gegenüber der Krankenmordaktion „T4“ in Absprache mit Anstalten in Westfalen und im Rheinland im Sommer 1940 Widerstand leistete: das Ausfüllen der Meldebögen, die zur Auswahl der zu Tötenden dienen sollte, wurde verweigert.
Im Verlauf des DFG-Projekts konnten nun neue Details herausgearbeitet werden. Das Kategoriensystem des Chefarztes Gerhard Schorsch zur Vorbegutachtung der Patienten, das sich in fast jeder Krankenakte in Form von „Epikrisen“ wiederfindet, wurde erstmals anhand der im Projekt gesichteten Einzelfallakten genauer erforscht. Die Epikrisen sollten dazu dienen, die Anwesenheit der staatlichen Ärztekommission, die im Februar 1941 zur Selektion der Anstaltspatienten anreiste, zeitlich zu verkürzen. Zugleich bestand die Hoffnung, dass man eine Mehrzahl der Patienten positiv charakterisieren könnte, damit sie nicht Opfer möglicher Abtransporte in die NS-„Euthanasie“ würden. Dennoch ließ man sich gleichzeitig auf eine Wertung des Lebens von Patienten ein. Die damit einhergegangene Kooperation mit dem NS-Staat und seiner Lebensvernichtung beleuchtet die Schuld, die man angesichts einer verantwortungsethischen Position auf sich zu nehmen bereit war.
Der Abbruch der „Aktion T4“ im August 1941 führte dazu, dass es nicht zum Abtransport der von der Ärztekommission vorgesehenen Patienten aus Betheler Häusern kam. Im subjektiven Selbstverständnis Bethels wurde dieses - bis hinein in die 1990er Jahre - als Folge der eigenen Resistenz und Verzögerung des Verfahrens gedeutet. Bei historischer Betrachtung spielte das Verhalten Bethels zwar eine Rolle im Rahmen der sich in der ersten Jahreshälfte 1941 verstärkenden Proteste aus der Bevölkerung wie auch der katholischen Kirche, doch ist ein durchschlagender Effekt der eigenen Eingaben- und Verhandlungspolitik sowie der Gespräche mit dem Euthanasiebeauftragten Karl Brandt auf den offiziell verhängten Stopp der „Aktion T4“ nicht belegbar."
"Ab 1942 setzte eine Versorgungskrise in Deutschland ein, die vor allem in den Anstalten zu einer kriegsbedingten Minderversorgung führte, der besonders gegen Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr Patienten zum Opfer fielen. In Bethel kam es zu dieser Zeit und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu einer erhöhten Sterblichkeit mit einem Höchststand von rund 20 Prozent im Jahr 1945. Sensibilisiert durch die Kenntnisse um die „dezentrale Euthanasie“ in anderen Heil- und Pflegeanstalten wurden die Sterbefälle der Jahre 1941 bis 1947 in der Stichprobe der Patientenakten sorgfältig unter medizinischen Aspekten geprüft, ob es sich hier um eine Vernachlässigung, ein Hungersterben oder eine mögliche verdeckte Tötung, etwa mittels Medikamentenüberdosierung, hätte handeln können.
Belastbare Beweise für eine gezielte Tötung im Sinne einer „dezentralen Euthanasie“ konnten in keiner der untersuchten Einrichtungen der v. Bodelschwinghschen Anstalten gefunden werden.
Als Faktoren für ein erhöhtes Sterben sind die Verdichtung des Anstaltsraums durch Fremdbelegung (Lazarette und Ausweichkrankenhäuser) und Zerstörung der Häuser durch Luftangriffe zu nennen. Räumliche Enge, eine mangelhafte Ernährungslage und der daraus erfolgte Nährstoffmangel begünstigten Infektionen und das Auftreten interkurrenter Erkrankungen, besonders von Tuberkulose. Die aus der Basis von Krankenakten darstellbaren Einzelschicksale und Befunde, insbesondere aus den für Tuberkulosekranke eingerichteten Isolierhäusern, sind erschreckend. Zu konstatieren ist, dass die Patienten in den Anstalten nicht die Ernährung erhielten, die für ihr Überleben erforderlich war. Eine gezielte Ermordung – also ein beabsichtigtes, gezielt herbeigeführtes oder ein billigend in Kauf genommenes vorzeitiges Sterben –, durch Vernachlässigung, Nahrungsmittelentzug beziehungsweise Verhungernlassen oder Medikamentenüberdosierung lässt sich nicht nachweisen. Wohl aber eine allgemeine Akzeptanz des Sterbens von Anstaltspatienten im Zweiten Weltkrieg, die Parallelen aufweist zur Situation in den Anstalten während des Ersten Weltkriegs, in der viele Menschen an unzureichender Ernährung und Krankheiten starben. Das über das Kriegsende sich fortsetzende Sterben war auch im Betheler Beispiel bedingt durch die vorherige Auszehrung der Patienten (bis zu Hungerödemen) sowie die weiter geltenden niedrigen Rationen für Anstaltspatienten auch unter der britischen Besatzung."
"Die Medizinalisierung setzte in Bethel später ein als in anderen Anstalten und auch später, als der Staat und staatliche Einrichtungen es forderten. Die Ursache lag im Ringen zwischen den akademischen Autoritäten - der theologischen Anstaltsleitung und den Ärzten. So war der theologischen Leitung der Anstalt eine christliche Gesinnung in manchen Belangen wichtiger als ein wissenschaftlich ausgerichtetes Interesse. Doch insbesondere in den 1920er- bis 1940er-Jahren wurde die zunehmende Bedeutung der Ärzte und ihres Handelns in Bethel sichtbar. Die wachsende Zahl der Ärzte und ihre steigende wissenschaftliche Orientierung, die sich unter anderem in renommierten universitären Ausbildungen spiegelten, kennzeichneten diese Entwicklung.
Die Medizinalisierung der Betreuung von Menschen mit Epilepsie, psychischen Krankheiten und geistiger Behinderung nahm insbesondere in den 1930er Jahren an Fahrt auf. Zwar wurde im Haus Mara bereits im Jahr 1933 ein Aufnahmehaus für Epilepsiekranke eingerichtet, doch genauere und spezifischere Diagnosemöglichkeiten und neue medikamentöse Therapieansätze für Anfallsleiden kamen erst in der Nachkriegszeit auf. Bei Patienten mit Epilepsie war das Ziel in den 1920er und 1930er Jahren die Anfallsvermeidung und die Verringerung der Anfallshäufigkeit zu erreichen, mit einer reizarmen Umgebung, einem sehr geregelten Tagesablauf und speziellen diätetischen Regelungen. Eine medikamentöse Therapie mit Bromkalium oder Luminal sollte in Bethel auf jeden Fall versucht werden, so die Aussage der dort tätigen Ärzte. Das Pflegepersonal wurde geschult in der Anfallsbeobachtung und -beschreibung.
Anders verhielt es sich mit der Therapie von psychiatrischen Erkrankungen. Hier kamen in den 1930er Jahren durch die neuen somatotherapeutischen Verfahren wie Insulinkomatherapie, Cardiazol- und Elektrokrampftherapie neue, sehr aufwändige Behandlungsmöglichkeiten hinzu, die auch in der privaten, nicht universitären Anstalt in Bethel und Sarepta angewendet wurden. Indikationen für somatotherapeutische Verfahren waren Diagnosen wie Schizophrenie, akute Psychose oder Depression. In einigen Fällen wurde auch bei Menschen, die wegen einer geistigen Behinderung oder einer Epilepsie in den v. Bodelschwinghschen Anstalten lebten, durch ein Schockverfahren eine Verhaltensänderung erwirkt. Die Malariafiebertherapie wurde sehr spezifisch bei Patienten mit diagnostizierter progressiver Paralyse angewendet. Die Indikationen für die Insulinkomatherapie, die Cardiazol- und die Elektrokrampftherapie waren nicht so spezifisch und wandelten sich auch über den Untersuchungszeitraum. Neben einer medizinischen Indikation für ein somatotherapeutisches Verfahren gab es auch den Wunsch der Patienten bzw. der Angehörigen nach einem solchen Therapieverfahren.
Im medizinischen Feld wurde nach dem Krieg unter der Ägide von Chefarzt Schorsch die Forschung im Bereich der Epilepsie (EEG) und der psychiatrischen Erkrankungen mit medikamentösen und Elektrokrampftherapien ausgebaut."
Dr. med. Marion Hulverscheidt
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekts zu Alltag in Bethel 1924-1949, Ärztin und Medizinhistorikerin, Universität Kassel, Forschungsschwerpunkte Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts und medizinethische Fragestellungen
"Ein Aspekt unseres Forschungsprojekts verweist auf die medizinische Seite der anstaltlichen Existenz der Patienten. Welche Medikamente wurden eingesetzt? Inwiefern entsprachen die durchgeführten Behandlungen dem Stand der medizinischen Wissenschaft? Neben der medizinischen Behandlung galt es auch die pflegerischen Aspekte des Aufenthalts in den Blick zu nehmen. Bei der Dokumentation in den Krankenakten haben wir besonders auf die Sprache geachtet, die über die Patienten zur Anwendung kam. Zudem wurden hier, wie auch in der vorgenannten Fragestellung zu den medizinischen und therapeutischen Aspekten, mögliche Unterschiede in der Behandlung von Frauen und Männern in die Analyse einbezogen."
Ohne wissenschaftliche Standards
Falschinformationen in der Öffentlichkeit
Zum Thema Bethel im Nationalsozialismus sind immer wieder Falsch- und Desinformationen im Umlauf. Wie kommt das? Thesen mit Schlagworten wie „Euthanasie", „Deportationen“, oder „Säuglingsmorde“ verbreiten sich aufgrund ihrer Brisanz schnell in der Öffentlichkeit und werden eher wahrgenommen als lange wissenschaftliche Studien. Doch wie viel Wahrheit steckt wirklich dahinter?
Seit 2014 veröffentlichen zwei Autoren, Dr. Barbara Degen und Prof. Dr. Claus Melter, Mutmaßungen zu NS-Verbrechen in Bethel und fordern die ihrer Ansicht nach fehlende Aufarbeitung. Ihre Thesen stehen jedoch isoliert da, denn unter Fachleuten in der historischen Forschung finden sie keinen Rückhalt. Ein genauer Blick in die Veröffentlichungen zeigt, dass es keine wissenschaftlichen Belege für die Behauptungen gibt. Es wurden nur wenige historische Dokumente hinzugezogen, diese nur selektiv ausgewertet und selbst die Sekundärliteratur falsch wiedergegeben. Daraus resultieren eklatante Fehler und Falschaussagen, die die Öffentlichkeit in die Irre führen und auch die Verlegung eines Stolpersteins für Hilde Sommer beeinflussten.
Auf die pseudowissenschaftlichen Publikationen reagierte Bethel 2014 mit einer Stellungnahme: „Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte“. Die Aussagen und Arbeitsweise Degens wurden nach wissenschaftlichen Standards geprüft, so dass Fehler und manipulative Interpretationen benannt werden konnten. Ähnlich konnte auch eine Buchbesprechung in den Ravenberger Blättern (2021 Nr. 1) zu Veröffentlichungen von Degen und Melter aus dem Jahr 2020 weitere Behauptungen ohne Belege aufdecken.
Trotzdem halten sich die Falschaussagen hartnäckig in der Öffentlichkeit und werden weiter verbreitet - entgegen dem wissenschaftlichen Forschungskonsens und dem Fachwissen ausgewiesener Experten zum Nationalsozialismus allgemein und zur Geschichte Bethels.
Archivpädagogik im Hauptarchiv Bethel
Forschendes Lernen
Sich selber ein Bild machen, das trägt am besten dazu bei, Fakten von Fake News zu unterscheiden. Das Hauptarchiv Bethel bietet für Schulklassen und Studierende die Möglichkeit mit historischen Quellen zu arbeiten, das historische Bethel kennenzulernen und eigene Ergebnisse zu präsentieren.
Kerstin Stockhecke M.A.
Leiterin des Hauptarchivs Bethel und Historikerin
"Die historische Aufarbeitung ist uns wichtig, vor allem die Vermittlung an jüngere Generationen liegt in unserem Fokus. Ziel unserer historischen Bildungsarbeit ist es, sich in Entscheidungsprozesse der damals handelnden Menschen hineinzuversetzen, diese zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Es sollen eigene Handlungsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden, um so historisches Lernen demokratiebildend zu gestalten."
- Lernen im Archiv
Wer nicht nur im Internet unterwegs sein möchte, der kann im Hauptarchiv Bethel vor Ort verschiedene archivpädagogische Programme besuchen.
- Ausstellung „Es war alles Leben was in ihm steckte“. Kinder und Jugendliche in Bethel, 1933 – 1945.
Auch ganze Ausstellungen können anhand von Quellenarbeit entstehen, wie zum Beispiel in Kooperation mit Uni-Seminaren.
- App in die Geschichte
Das Hauptarchiv Bethel ist Pilotpartner der QUA-LiS NRW für die Entwicklung dieses digitalen Lernangebots.
Nike Harmening
Studentin, Geschichtswissenschaft Universität Bielefeld, Mitarbeit an der Ausstellung „Es war alles Leben was in ihm steckte“. Kinder und Jugendliche in Bethel, 1933 – 1945.
"Das Projektseminar hat mir einen super Einblick in die praktische historische Arbeit gegeben. Ich habe vor allem gelernt, dass man für die Auswertung von Patientenakten immer auch den historischen Kontext benötigt. Eine Akte kann nie für sich selbst stehen oder sprechen, weil man sonst ganz leicht zu Fehlinterpretationen kommen kann. Die Aufarbeitung eines Einzelschicksals und auch die Möglichkeit Geschichte kreativ in Form einer Ausstellung zu präsentieren war eine ganz neue Erfahrung für mich."
Historische Forschung
Rückblick und Ausblick
Die Zeit des Nationalsozialismus in Bethel ist mittlerweile gut erforscht. Dennoch kommen natürlich immer wieder neue wissenschaftliche Fragestellungen auf. Die vorhandenen Quellen im Hauptarchiv Bethel und in anderen Archiven bilden eine gute Basis für weitere historische Forschungen.
Prof. em. Dr. phil. habil. Matthias Benad
Kirchenhistoriker, Institut für Diakonie- und Sozialgeschichte, Bielefeld
"Seit 30 Jahren beschäftigt mich die Geschichte Bethels. 1992 wurde ich an die Kirchliche Hochschule in Bielefeld berufen, um für sieben Jahre eine Forschungsprofessur zu Bethel im Nationalsozialismus zu übernehmen. Nachdem Ernst Klee, der mit den Betheler Unterlagen gearbeitet hatte, 1983 die Anstalten mit Fakten konfrontiert hatte, die nicht ihrem propagierten Selbstbild entsprachen, war im Betheler Vorstand die Verantwortung geweckt, dauerhaft historische Forschung zu ermöglichen und zu fördern. Problematische Entwicklungen und Konflikte wurden dabei nicht ausgespart, irreführende Narrative korrigiert. Oft ging es auch um Aussprache mit Betroffenen, um Entschädigung und angemessenes Gedenken, auch um Bedauern und Bitte um Entschuldigung. Weitere Forschungen werden folgen, auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. Manches zeichnet sich schon am Horizont ab. Öffentliche Diskussionen werden ein Übriges tun, und Themen in den Fokus rücken, die auch in Zukunft der historischen Aufarbeitung bedürfen."