Auswertung einer Patientenakte. Ein Beispiel.

Hilde Sommer

Ein Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Ruhr-Universität Bochum hat zum Alltag der Menschen in Bethel zwischen 1924 und 1949 gearbeitet. Um wissenschaftlich fundierte Aussagen treffen zu können, wurden über 2.000 Patientenakten ausgewertet. Durch die große Stichprobe konnten allgemeine Erkenntnisse über das Anstaltsleben, über die Ärzte oder über Behandlungsmethoden gewonnen werden. Patientenakten geben aber auch individuelle Einblicke in das Leben von Menschen.

Hier soll beispielhaft eine Patientenakte erläutert werden - Hilde Sommer. Was erfahren wir aus ihrer Patientenakte? Was müssen wir wissen, um Einzelheiten richtig zu analysieren? Welche historischen Zusammenhänge sind wichtig, um die Akte verstehen und einordnen zu können?

Kerstin Stockhecke M.A.

Leiterin des Hauptarchivs Bethel und Historikerin

"In den letzten Jahren ist die Forschung mit historischen Patientenakten in Archiven immer wichtiger geworden. Das betrifft vor allem die Zeit des Nationalsozialismus. Im Hauptarchiv Bethel arbeiten vermehrt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit diesen Akten. Auch Schulklassen und Studierende können anhand von Patientenakten viel über das Thema Nationalsozialismus lernen. Was unbedingt wichtig ist, um die Akten richtig lesen und einordnen zu können, sind historische Hintergrundinformationen. Dazu gehören Kenntnisse über die Geschichte der Einrichtung, rechtliche Zusammenhänge bis hin zu Kenntnissen aus der Medizin. Gerade bei Letzterem ist es wichtig im historischen Kontext zu bleiben und sich nicht von heutigen Standards leiten zu lassen."

Hilde Sommer

Ihre Geschichte

Hilde Sommer wurde am 21. August 1911 in Bielefeld geboren. Sie besuchte als Kind die Volksschule und lernte später den Beruf der Schneiderin, in dem sie bis zu ihrer Heirat arbeitete. Als sie 1943 in Bethel aufgenommen wurde, war sie sieben Jahre verheiratet und hatte zwei Söhne im Alter von sechs und drei Jahren. Bereits mit 18 Jahren war sie zur Behandlung einer psychischen Erkrankung in der Provinzialheilanstalt Gütersloh. Nach der Geburt des ersten Sohnes, als sie 25 Jahre alt war, bekam sie erneut depressive Phasen, die jeweils zwei bis drei Monate anhielten. Der Wechsel von guten und schlechten Phasen dauerte an und mündete 1941 in einen Suizidversuch. Am 15. Juli 1943 entschied sich Hilde Sommer aufgrund einer vermuteten endogenen Depression zur Aufnahme im Pflegehaus Magdala für Frauen mit psychischen Erkrankungen. Hier diagnostizierten die Ärzte nach einem Monat eine "symptomatisch gefärbte Psychose". Ihr geistiger und körperlicher Zustand verschlechterte sich rapide. Sie wurde mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Therapien behandelt. Doch am 1. September 1943 verstarb Hilde Sommer an Pneumonie. 

Dr. Uwe Kaminsky

Historiker und Leiter des DFG-Forschungsprojekts zu Alltag in Bethel 1924-1949

"Sensibilisiert durch die Kenntnisse um die dezentrale "Euthanasie" in anderen Heil- und Pflegeanstalten, sollte in dem Forschungsprojekt zu Bethel unvoreingenommen geprüft werden, auf welche Einflussfaktoren die in den Kriegsjahren und den beiden unmittelbaren Nachkriegsjahren erhöhte Sterblichkeit zurückzuführen ist. Daher wurden von den 2.000 untersuchten Patientenakten alle Sterbefälle der Jahre 1941 bis 1947 unter medizinischen Aspekten geprüft. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass sich eine gezielte Ermordung durch Vernachlässigung, Nahrungsmittelentzug bzw. Verhungernlassen oder mittels Medikamentenüberdosierung in keiner der untersuchten Einrichtungen der v. Bodelschwinghschen Anstalten nachweisen lässt. Als Faktoren für ein vermehrtes Sterben gelten die kriegsbedingte Mangelsituation und die prekären Versorgungsverhältnisse."

Hilde Sommer

Ihre Patientenakte

Anhand einiger Dokumente aus der Krankengeschichte von Hilde Sommer soll verdeutlicht werden, wie man eine Patientenakte liest und quellenkritisch einordnet.

Wie sah Bethel damals aus?

Bethel wurde 1867 gegründet und entwickelte sich rasch zu einer großen diakonischen Einrichtung mit Hilfsangeboten vor allem für Menschen mit Epilepsie, Behinderungen, psychischen Erkrankungen und für wohnungslose Menschen. Das Pflegepersonal stellten die Diakonissenanstalt Sarepta und die Diakonenanstalt Nazareth, die gemeinsam mit der Anstalt Bethel den Anstaltsbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bildeten. Anfang der 1940er Jahre gab es in der Ortschaft Bethel und dem nahegelegenen Eckardtsheim rund 4.200 Plätze in etwa 80 Pflegehäusern. 

Was war das Pflegehaus Magdala?

Das Pflegehaus Magdala war eine psychiatrische Einrichtung für Frauen, die von der Diakonissenanstalt Sarepta betrieben wurde. Hier wurden Frauen mit Depressionen, Psychosen oder Schizophrenie meist für einige Wochen oder Monate behandelt. 

Das Übersichtsblatt

Dies ist die erste Seite der Krankengeschichte, wo bei Aufnahme in die Anstalt die Personalien erfasst wurden. Während der Untersuchungen und des Aufenthalts in der Einrichtung wurde später die Diagnose auf diesem Übersichtsblatt ergänzt, sobald sie sich gefestigt hatte. Auch die Entlassung oder das Todesdatum sowie die Todesursache wurden hier nachgetragen, so dass alle wichtigen Angaben zu der Person auf der ersten Seite sichtbar sind. 

Eingetragen ist der Vorname Hilde, der bei Aufnahme in Sarepta angegeben wurde. Laut Geburtsurkunde, die im Stadtarchiv Bielefeld überliefert ist, hieß sie Johanne Hilda Sommer, geborene Oestersötebier. Ob sie von ihrer Familie eher Hilde als Hilda genannt wurde, kann nur vermutet werden.

Die Westfälische Diakonissenanstalt Sarepta war ein Teil der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel mit einer eigenen Psychiatrie für Frauen. Eines der Pflegehäuer Sareptas hieß Magdala - dort wurde Hilde Sommer am 15. Juli 1943 in der geschlossenen Abteilung aufgenommen. Einweisender Arzt war Dr. Karsten Jaspersen, Chefarzt der Psychiatrie und Neurologie Sareptas, auf dem Blatt mit seinem Kürzel "Dr. J" vermerkt.

In die Zeile "entlassen am" wurde das Todesdatum mit dem Hinweis "gest." für gestorben eingetragen. In der Zeile darunter wurden sowohl die Diagnose als auch die Todesursache "Symptomatisch gefärbte Psychose - Pneumonie" erfasst. Handschriftlich ist die Diagnose "9b" nach dem damaligen Würzburger Diagnoseschlüssel ergänzt. 

In der Ecke unten rechts hat die Assistenzärztin Dr. Gertrud Runge "Nicht erbkrank" notiert, was wichtig für Maßnahmen nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" war. 

Wie waren Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen vom Nationalsozialismus bedroht?

Menschen, die in Anstalten lebten, waren durch die rassenpolitischen Ziele der Nationalsozialisten bedroht. Anfang 1934 trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft. In Bethel wurden 1.665 Menschen zwangssterilisiert. Von September 1939 bis August 1941 waren mehr als 3.000 epilepsiekranke, behinderte und psychisch kranke Patienten und Patientinnen in Bethel im Visier der "Aktion T4". Der Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh d. J. stellte sich aus christlichen Gründen gegen die "Euthanasie".  Nach Beendigung der "Aktion T4" wurden in einigen anderen Heil- und Pflegeanstalten in der "dezentralen Euthanasie" durch bewusstes Verhungern- oder Sterbenlassen oder durch Medikamente Patienten und Patientinnen Opfer der Kranken- und Behindertenmorde. In Bethel fand die historische Forschung keinen Hinweis auf Tötungen in dieser zweiten Phasen der "Euthanasie", auch dezentrale "Euthanasie" genannt.

Das Vorgespräch

Am 12. Juli 1943, also drei Tage vor der stationären Aufnahme, hatte es ein Vorgespräch mit der 31-jährigen Hilde Sommer in der Sprechstunde des Chefarztes Dr. Karsten Jaspersen gegeben. Zu dem Gespräch wurde sie von ihrer Mutter begleitet, die einige Angaben über die medizinische Vorgeschichte ihrer Tochter geben konnte. Es war im Rahmen der Anamnese üblich, dass Angehörige in der Sprechstunde oder bei der Aufnahme befragt wurden, um eine erste Diagnose stellen zu können.

Aus dem Bericht der Mutter geht hervor, dass ihre Tochter mit 18 Jahren an "Veitstanz" litt und dabei "gemütskrank" wurde. Zur Behandlung war sie neun Wochen in der Provinzialheilanstalt Gütersloh. Seit dieser Zeit nahm die psychische Erkrankung von Hilde Sommer ihren Lauf.

Nach der Geburt des ersten Kindes, sechs Jahre zuvor, hatte Hilde Sommer dann jedes Jahr für zwei bis drei Monate depressive Zustände: "ganz teilnahmslos, weine viel, kümmere sich gar nicht um die Kinder.", so beschrieb es die Mutter. Diesen Zustand hatte sie nun wieder seit drei Wochen. Zwei Jahre zuvor hatte Hilde Sommer einen Suizidversuch begangen. 

Die Mutter machte außerdem allgemeine Angaben zur Familie und zu ihrer Tochter.

Auch die Patienten konnten im Vorgespräch oder Aufnahmegespräch ihr Befinden schildern. Hilde Sommers eigene Ausführungen stimmen mit denen ihrer Mutter überein.

Der Chefarzt Dr. Karsten Jaspersen stellte als erste Diagnose eine "Endogene Depression" und riet zur stationären Aufnahme.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gab es für Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Weil es heute Medikamente wie Neuroleptika gibt, verurteilt man schnell zeitgenössische Behandlungsmethoden. Doch auch damals ging die Medizin und Pflege davon aus, mit den zur Verfügung stehenden Therapien psychische Erkrankungen gut behandeln zu können. Seit Mitte der 1930er Jahre wurden somatotherapeutische Verfahren angewandt, wie die Malariafiebertherapie, die Pyrifer-Fiebertherapie oder die als modern geltenden Schocktherapien mit Insulin, Cardiazol, Azoman und die Elektrokrampftherapie. Diese Therapieformen wurden bei Patienten eingesetzt, die als heilbar galten und bei denen kurzfristig oder dauerhaft eine Besserung zu erwarten war. Gezielte Medikamente für Patienten mit psychiatrischen Diagnosen gab es erst seit Anfang der 1950er Jahre.

Wie wurde Insulin zur Behandlung eingesetzt?

Die Insulinschocktherapie wurde erstmals 1933 in Wien angewandt, kam 1936 nach Deutschland und wurde ein Jahr später auch in Bethel eingeführt. Das Verfahren bestand aus wiederholten, steigenden Gaben von Insulin. Dabei kam es bei den Patienten zunächst zu starkem Schweißausbruch, dann zu leichter Benommenheit, die allmählich in einen Zustand tiefer Bewusstlosigkeit überging, der als Insulinschock bezeichnet wurde. Diese absichtlich vom Arzt gesetzten Insulinschocks sollten beruhigend auf die Patienten wirken. Die Therapie war aufwendig, da die Patienten in eigens eingerichteten Abteilungen unter ständiger Beobachtung einer geschulten Schwester standen und jederzeit die Erreichbarkeit eines Arztes gewährleistet sein musste. Ab Januar 1942 wurden vom "Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten" die Insulinkuren zur Behandlung von psychisch Kranken verboten. Die kostbare Ressource Insulin sollte Diabetikern vorbehalten bleiben. In Bethel und in Sarepta wurden aufgrund der von den Ärzten wahrgenommenen Erfolge jedoch weiter Insulinschockbehandlungen durchgeführt und Insulin auch zur Appetitanregung eingesetzt, bis ab Juli 1944 kein Insulin mehr geliefert wurde.

Was war die Elektroschockbehandlung?

Die sogenannte Elektrokrampftherapie, auch Elektroschocktherapie genannt, war kostengünstiger und weniger aufwendig als die Insulinschocktherapie. Sie wurde 1938 von italienischen Psychiatern enwickelt und ein Jahr später als die modernste Therapieform in Deutschland eingesetzt. 

Bei dieser Behandlung wurden mittels eines hierfür konstruierten Therapiegerätes elektrische Ströme für Bruchteile von Sekunden von Schläfe zu Schläfe durch den Kopf des Patienten geleitet. Nach einer kurzen Phase der Bewusstlosigkeit kam es zu einem therapeutischen Krampfanfall. Die Anzahl der notwendigen Schockbehandlungen schwankte zwischen zwei bis 20, die im Abstand von zwei bis drei Tagen durchgeführt wurden. In der damaligen Wahrnehmung verbesserte sich bei vielen Patienten die Erkrankung.

Die Elektrokrampftherapie wurde überwiegend in Universitätskliniken eingesetzt. Dass 1942 zwei Elektrokrampftherapiegeräte in Bethel und Sarepta angeschafft wurden, zeugt von einem hohen medizinischen Modernisierungsgrad. 

Die Krankengeschichte

Die Aufzeichnungen in der Krankengeschichte begannen immer am Tag der stationären Aufnahme. Die Aktenführung in Anstalten war nicht standardisiert. Das Befinden von Patienten und die Therapien wurden entweder mit Schreibmaschine oder handschriftlich in unregelmäßigen Abständen in den Krankengeschichten dokumentiert.

Hilde Sommers Krankengeschichte beginnt am Tag ihrer Aufnahme, am 15. Juli 1943, mit dem Satz "Kommt heute zur Aufnahme und Elektroschockbehandlung." Daraus ergibt sich die Annahme, dass die Therapiemethode im Aufnahmegespräch bereits besprochen wurde. Da in der Psychiatrie oftmals nur Beruhigungsmittel gegeben wurden, galt nun die Elektroschocktherapie als eine Therapieform mit Aussicht auf Besserung der Erkrankung. Seit 1942, drei Jahre nach der Einführung in Deutschland, verfügten Bethel und Sarepta über zwei Elektrokrampftherapiegeräte. Mit Hilfe von elektrischen Stromreizen an den Schläfen von Bruchteilen einer Sekunde wurden therapeutische Krampfanfälle ausgelöst, die Veränderungen im Gehirn erzeugen und damit Angst nehmend und beruhigend wirken sollten.

Im Rahmen der üblichen Elektrokrampftherapie bekam Hilde Sommer vom 17. bis zum 30. Juli im Abstand von drei bis vier Tagen insgesamt fünf Elektroschocks. Diese wurden auf einem Vordruck eingetragen. Dabei wurde das Datum, der elektrische Widerstand in Ohm, die Spannungshöhe in Volt und die Zeitdauer des Schocks angegeben sowie ein Symbol, ob es zu einem Krampf gekommen war oder nicht. Laut Krankengeschichte zeigte die Therapie bei Hilde Sommer zunächst einen Erfolg. Die Ärzte dokumentierten:  "nicht mehr depressiv" (30.07.1943) und "sehr frisch und zugänglich. Etwas hypomanisch. Lacht gern und viel" (05.08.1943). 

Ein paar Tage später wurde ein auffälligeres pychiatrisches Zustandsbild beschrieben. Die Ärzte diagnostizierten nun eine "symptomatische Psychose", deren Symptome am 14. August in der Krankenakte dokumentiert sind. Nach damaligem Kenntnisstand war eine symptomatische Psychose eine geistige Störung, die auf eine Infektionskrankheit, eine organische Erkrankung oder eine Allgemeinerkrankung zurückzuführen sei. Zur Beruhigung bekam Hilde Sommer zunächst das Medikament "Pant-Scopolamin". Bei solch schweren Erregungszuständen wurde oft Scopolamin gegeben und mit Pantopon kombiniert, um die Wirksamkeit zu verlängern.

Aufgrund der psychischen Veränderungen setzten die Ärzte nun auf eine andere bewährte Therapie: die Insulinschocktherapie. Eigentlich waren seit Januar 1942 Insulinkuren verboten, da das Insulin nur Diabetikern vorbehalten sein sollte. In Bethel und in Sarepta wurden weiterhin Insulinschockbehandlungen in der Psychiatrie durchgeführt und Insulin auch zur Appetitanregung verabreicht. Die wahrgenommenen Behandlungserfolge hatten die Ärzte überzeugt, diese Therapien weiterzuführen und sich über das Verbot hinwegzusetzen. 

Die Insulinschockbehandlung erforderte die ständige Gegenwart einer Schwester, die mit der Behandlung genauestens vertraut war sowie die jederzeitige Erreichbarkeit eines Arztes. Die Behandlung wurde grundsätzlich mit 20 Einheiten Insulin begonnen, so auch bei Hilde Sommer am 12. August. Die Insulindosis wurde intramuskulär verabreicht und täglich um 10 Einheiten gesteigert. Der therapeutische Schockzustand, der dadurch erreicht werden sollte, trat bei Hilde Sommer nach acht Behandlungstagen ein. Nach dem Schock wurden die Patienten üblicherweise durch 200 Gramm gelöste Zuckergaben mittels nasal eingeführter Magensonde geweckt. Alle Angaben über Insulineinheiten sowie Schock und Vitalzeichen wurden in einem Schema festgehalten, das sich auch in der Krankengeschichte von Hilde Sommer befindet.

Währenddessen wurde nochmal die Mutter zur Vorgeschichte befragt, um sich das veränderte Krankheitsbild besser erklären zu können. Sie antwortete am 15. August, dass "die Tochter auch bei den früheren Erkrankungen tageweise jedesmal ganz verwirrt gewesen sei, die Nahrung verweigert habe und unruhig gewesen sei."

Bis eine Besserung eintrat, wurden in einer Insulinschocktherapie normalerweise mindestens 20 bis 60 Schocks durchgeführt. Bei Hilde Sommer wurde die Therapie nach dem ersten Schock jedoch abgebrochen. Der Grund dafür wurde nicht ausdrücklich dokumentiert. Aber auf einem Formular wurde eine steigende Temperatur vermerkt, die am 19. August mit 37,5 Grad begann und am 22. August morgens bis auf 39,7 Grad angestiegen war, dann am Abend wieder auf 38,6 Grad abfiel. In den nächsten Tagen schwankte ihre Temperatur zwischen 36,5 und 38,6 Grad. Auch in der Krankengeschichte wurde am 30. August vermerkt: "Seit Tagen fieberhaft." Seit dem 14. August bekam Hilde Sommer täglich Traubenzucker und Kochsalzlösung als Infusion, weil die Nahrungsaufnahme weiterhin erschwert blieb. Außerdem wurde ihr Kombetin zur Kreislaufstabilisierung verabreicht. Nochmal wurde versucht, den Appetit anzuregen, indem sie ab dem 23. August Insulin in geringen Mengen (20 bis zweimal 30 Einheiten pro Tag) bekam.

Um bei Hilde Sommer eine bakterielle oder virusbedingte Erkrankung im Bereich des zentralen Nervensystems ausschließen und die Diagnose weiter eingrenzen zu können, wurde ihr Liquor, eine Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit, entnommen und am 26. August in der serologischen Abteilung Bethels ausgewertet. Die Liquoruntersuchung mittels Lumbalpunktion war in der Psychiatrie eine der am häufigsten durchgeführten ärztlichen Eingriffe. Das Ergebnis der Liquoruntersuchung liegt in der Krankenakte vor und war insgesamt negativ.

Die Ärzte dokumentierten am 30. August in der Akte: "Organisch anmutender Zustand" und "Seit einigen Tagen hustet Pat mit etwas Blutbeimengung. Körperlich sehr verfallen." Es ist wahrscheinlich, dass die Ärzte spätestens hier eine Lungenentzündung vermuteten. Dafür spricht auch, dass offenbar die Mutter nochmal herangezogen wurde. In der Krankengeschichte ist am 30. August vermerkt, dass ihre Tochter mit 17 Jahren an Tuberkulose erkrankt war und in einer Lungenfachklinik in Brilon behandelt wurde. Hilde Sommers Lunge war demnach vorgeschädigt. 

 

Einen Tag später verschlechterte sich Hilde Sommers Zustand rapide, so dass sie kreislaufstärkende Mittel (Kampferöl, Myokombin und Sympatol) bekam, was auf einem Formular dokumentiert ist. Doch sie verstarb am 1. September 1943 um 5:30 Uhr. Die Todesursache "Symptomatisch gefärbte Psychose - Pneumonie" wurde dann auf der ersten Seite der Krankengeschichte, auf dem Übersichtsblatt, eingetragen. 

Dr. med. Marion Hulverscheidt

Ärztin und Medizinhistorikerin, Universität Kassel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekts zu Alltag in Bethel 1924-1949

"Hilde Sommer kam aus freien Stücken zur Behandlung ihrer psychischen Erkrankung in die Anstalt Sarepta. Dass sie dort trotz intensiver und adäquater Therapie verstarb, ist tragisch, aber medizinisch und historisch nachvollziehbar. Bei Krankenakten, wo Kollegen und Kolleginnen in anderen Heil- und Pflegeanstalten eine Vernachlässigung oder eine Tötung durch Medikamente feststellen konnten, war die Dokumentation lückenhaft, also in großen Abständen oder gar nicht vorhanden. In der Akte von Hilde Sommer hingegen liegt eine durchgängige Dokumentation vor. Es sind mehrfache Arztkontakte dokumentiert und die Vorgeschichte wurde von der Patientin selbst und von ihrer Mutter erfragt. Eine veränderte Diagnose - von einer endogenen Depression zu einer Psychose - führte nicht zu einem Aufgeben der Patientin. Sie wurde im Gegenteil umfänglich umsorgt und mit den damalig modernsten Therapien  behandelt. Wenn Hilde Sommer hätte sterben sollen, wären die Infusionen mit Traubenzucker und Kochsalz unnötig gewesen, ebenso die Insulingaben."